Die Ukraine, Russland und die Handelsfinanzierung

Die Ukraine gilt seit Langem als einer der grössten Getreideproduzenten weltweit. Ihre fruchtbaren Böden und günstige klimatische Bedingungen machen sie zu einem landwirtschaftlichen Kraftpaket, das einen erheblichen Beitrag zur Versorgung der Welt mit Nahrungsmitteln leistet. Nach Angaben der Europäischen Kommission entfallen auf die Ukraine 10% des weltweiten Weizenmarkts, 15% des Maismarkts und 13% Gerstenmarkts. Zudem ist sie ein bedeutender globaler Akteur auf dem Markt für Sonnenblumenöl. Da das Abkommen über einen Getreidekorridor von Russland nicht verlängert wurde, stehen Experten für Handelsfinanzierungen an einem Scheideweg.

Die Auswirkungen des Konflikts auf die Handelsfinanzierung: Zeichnen sich Probleme ab?

Die russische Invasion der Ukraine im Februar 2022 hat erhebliche Auswirkungen auf die Handelsfinanzierung. Der Krieg hat Handelsströme unterbrochen und für die in der Region tätigen Unternehmen Ungewissheit geschaffen. Die Kämpfe verursachten schwere Schäden an der Infrastruktur, einschliesslich Häfen, Flughäfen und Strassen. Für Unternehmen ist es deshalb schwierig, Waren und Materialien innerhalb des Landes und über die Grenzen ins Ausland zu transportieren. Dies hat unter anderem zu Verzögerungen bei Lieferungen und zu einem erheblichen Anstieg der Lager-, Verarbeitungs- und Transportkosten geführt.

 

Der Krieg in der Ukraine ist ein Weckruf für Handelsfinanzierungs-Experten und verdeutlicht, dass es in den Bereichen Widerstandsfähigkeit und Notfallplanung Verbesserungsbedarf gibt. Die Diversifizierung der Finanzierungsquellen und der Aufbau enger Beziehungen zu lokalen Akteuren sind entscheidende Faktoren für ihr Überleben.

Die Agrarregionen der Ukraine mit Schwerpunkt auf den Gebieten Cherson und Odessa

Die russische Invasion hat im Wirtschaftsumfeld der Ukraine deutliche Spuren hinterlassen, insbesondere im Hinblick auf die Produktion von Gütern und das Funktionieren von Lieferketten. Die Tragweite dieser Prägung fällt von Region zu Region unterschiedlich aus und wird weitgehend von der geografischen Nähe zur Frontlinie oder zu den besetzten Gebieten beeinflusst. Anschauliches Beispiel sind ukrainische Unternehmen aus dem Agrarrohstoffsektor. Die Ukraine, die auch «Brotkorb Europas» genannt wird, ist mit landwirtschaftlicher Vielfalt und überregionalen Handelsmöglichkeiten gesegnet. Die Oblaste Cherson und Odessa, sind die zwei wichtigsten Regionen des ukrainischen Agrarrohstoffsektors.


Die im Süden der Ukraine gelegene Oblast Cherson profitiert von fruchtbaren Böden und günstigen klimatischen Bedingungen. Sie ist eine bedeutende Landwirtschaftsregion, die sich auf die Produktion von Getreide wie Weizen, Gerste und Mais spezialisiert hat. Auf den riesigen Feldern der Oblast Cherson gedeihen auch Ölsaaten wie Sonnenblumen und Sojabohnen sowie verschiedene Obst- und Gemüsesorten. Die an der Schwarzmeerküste gelegene Oblast Odessa hingegen floriert als bedeutender Transportknotenpunkt und Handelsplatz. Die Häfen der Region, einschliesslich des berühmten Hafens von Odessa, erleichtern den Export von Rohstoffen nicht nur aus Odessa, sondern auch aus anderen Regionen. Die Oblast Odessa ist bekannt für den Getreideanbau, insbesondere Weizen, Gerste und Mais. Darüber hinaus trägt der Anbau von Ölsaaten und einem breiten Spektrum landwirtschaftlicher Erzeugnisse wie Zuckerrüben, Kartoffeln und Obst zu ihrer ökonomischen Vitalität bei.

 

Handelsfinanzierungsunternehmen ist es gelungen, die Kontrolle über ihre zugrundeliegenden Vermögenswerte in der Oblast Odessa, die seit Kriegsbeginn unter ukrainischer Kontrolle verblieben ist, zu behalten. Aufgrund der Demarkationslinie des Konflikts konnten landwirtschaftliche Kapazitäten in der Oblast Cherson jedoch nach dem Einfahren der Winterernte 2022 nicht weiter genutzt werden. Ausländisches Personal wurde in die Heimat zurückgeschickt und bewegliche Ausrüstung wurde in andere Oblaste wie das Gebiet Odessa verlagert. Seit November 2022 ist es den Unternehmen gelungen, einige Anbauflächen oberhalb der Demarkationslinie wieder zu nutzen, und die Minenräumung läuft. Aufgrund des Status als militärische Zone und der militärischen Kontrolle ist der Anbau in diesem Gebiet jedoch weiterhin unsicher.

 

Die im 4. Quartal 2022 gepflanzten Winterkulturen waren vielversprechend und profitierten von den günstigen Witterungsbedingungen. Satellitenmessungen im Süden deuten auf Erträge von 20 bis 25% über dem langjährigen Durchschnitt hin. Exportprozesse laufen und sollen bis zum 4. Quartal 2023 abgeschlossen sein. Was die Frühjahrskulturen betrifft, so wurden etwa 50% der Aussaat innerhalb akzeptabler Fristen abgeschlossen, trotz einiger Verzögerungen, die durch lang anhaltende Nässe verursacht wurden.


Einigen lokalen Händlern ist es gelungen, ihre Erzeugnisse über den Schwarzmeer-Getreidekorridor zu exportieren. Doch andere Parteien, die in der Mitte der Oblast Odessa angesiedelt sind, sahen sich jedoch aufgrund der begrenzten Exportmöglichkeiten mit logistischen Herausforderungen konfrontiert. Landkorridore und Binnenhäfen wurden genutzt, erwiesen sich aber gegenüber dem Schwarzmeer-Getreidekorridor als weniger effizient. Zudem machten Devisenkontrollen Zahlungen in US-Dollar auf lokale Inkassokonten notwendig, was zu Verzögerungen bei der Rückführung der Gelder führte.

 

Grafik 1: Übersicht über die Vermögenswerte von Odessa und Cherson und die verfügbaren Exportrouten

Russland setzt Schwarzmeer-Getreide-Initiative aus: Wie geht es weiter? 

Die zu Kriegsbeginn erwarteten Worst-Case-Szenarien im Hinblick auf Lebensmittelpreise und Sicherheit sind bisher nicht eingetreten. Stattdessen konnten die anfänglichen Auswirkungen eingedämmt werden, was zum Teil der Offenheit des multilateralen Handelssystems und der Transparenz und den Zusagen, die es von seinen Mitgliedern verlangt, zu verdanken ist. Dies zeigt, dass die Förderung tieferer und diversifizierter internationaler Märkte auf der Grundlage von offenen und vorhersehbaren Handelsregeln letztendlich die Widerstandsfähigkeit erhöht.

 

Noch während dieser Blogbeitrag geschrieben wurde, beschloss Russland, das bahnbrechende Getreideabkommen mit der Ukraine nicht zu erneuern. Die zum ersten Mal im Juli 2022 unterzeichnete, von den Vereinten Nationen vermittelte Schwarzmeer-Getreide-Initiative war bis dahin mehrfach für kurze Zeiträume verlängert worden. Die Vereinbarung erlaubte die Ausfuhr von Getreide über drei ukrainische Häfen am Schwarzen Meer (Odessa, Chornomorsk und Pivdennyi, früher Yuzhny) mit der Zusicherung der sicheren Durchfahrt für Schiffe, die diese Häfen anlaufen und verlassen.


Ohne das Getreideabkommen ist die Ukraine nun gezwungen, den grössten Teil ihres Getreides und ihrer Ölsaaten über ihre Landgrenzen und die Donauhäfen zu exportieren. Dies wird die Transportkosten erheblich erhöhen und zusätzlichen Druck auf die Rentabilität der ukrainischen Landwirtschaftsbetriebe ausüben. Folglich könnten Landwirte sich entschliessen, in der nächsten Saison weniger Getreide anzubauen, was die Versorgung weiter unter Druck setzen würde.

Was bringt die Zukunft? Einen Mix aus Optimismus und Hoffnung mit einer Prise Ungewissheit

Trotz der Ungewissheiten im Zusammenhang mit dem Schwarzmeer-Korridor und den Importbeschränkungen arbeiten Handelsfinanzierungsunternehmen eifrig daran, die komplexen Umstände zu bewältigen und die Kontrolle über ihre Vermögenswerte zu behalten. Wenngleich weiterhin Herausforderungen bestehen, geben das Engagement der Manager und die günstigen Erntebedingungen Anlass zur Hoffnung auf eine erfolgreiche Ernte und positive Ergebnisse bei Getreidetransaktionen in naher Zukunft. Die Unberechenbarkeit Russlands bleibt dennoch ein bedeutender Faktor, der nicht ignoriert werden darf.